Norddeutschland - das erste Jahrtausend

Widukind von Corvey und seine „Res Gestae Saxonicae“

Germanischer Anführer im 2. Jh. (rechts) und ein Heimkehrer aus dem römischen Militärdienst um 430 n. Chr. (links) Illustration von ©Kelvin Wilson zur Niedersächsischen Landesausstellung SAXONES, 2019

Als Ureinwohner Niedersachsens galten bislang die „alten Sachsen“, die damals noch "saxones" genannt wurden. Historiker und Archäologen waren sich lange darüber einig, dass sie dieses Land ab dem 3. Jahrhundert in Besitz genommen und nebenher auch noch England und Westfalen erobert hatten. Als historisch wichtige Grundlage dient hierzu die „Res Gestae Saxonicae“ die „Tatengeschichte der Sachsen“, die der Mönch Widukind von Corvey im 10. Jahrhundert aufgeschrieben hatte. Diese Schrift ist Mathilde, einer Tochter Ottos des Großen, gewidmet, die im Jahre 966 im zarten Alter von elf Jahren zur Äbtissin des Reichsstiftes Quedlinburg bestimmt wurde. Hier fasste Widukind von Corvey alles zusammen, was er über die Vorfahren ihres Vaters und Großvaters wusste. Die Widmung an Mathilde enthält am Ende die Worte: “Ich habe mich darum bemüht, auch über den Ursprung und Zustand des Stammes (…) einiges zu berichten, auf dass du bei deiner Lektüre deinen Geist erfreust, die Sorgen verscheuchst und dich angenehm zerstreust“. Über die Ursprünge der Sachsen, schreibt er, gäbe es „unterschiedliche Ansichten vieler Menschen“. Gewissheit könne man nicht haben, dass werde durch „die allzu ferne Zeit verdunkelt“. Sie könnten Nachfahren von Dänen und Normannen sein – oder Reste des makedonischesn Heeres, dass Alexander dem Großen gefolgt war.

So seltsam das auch alles klingen mag, Widukind von Corvey war der erste Geschichtsschreiber, der sich selbst und die Seinen als „saxones“ bezeichnete. Eine solche Identifikation wurde vorher nicht verwendet.

Die früheste Nennung von "saxones"

Das Grabinventar aus Grab 2 von Emersleben weist Bezüge nach Skandinavien auf.

Für die ersten Jahrhunderte müssen wir uns auf die römische schriftliche Überlieferung verlassen: Geschichten, Ethnografien, Dichtung und Briefe.

Die früheste und bekannte Nennung von „saxones“ könnte aus dem 2. Jahrhundert stammen. Ptolemäus, ein im römischen Ägypten lebender Gelehrter, schrieb damals eine Art geografisches Handbuch. Der auf griechisch verfasste Originaltext ist nicht erhalten, sondern nur eine rund 1100 (!) Jahre später entstandene Abschrift in Latein. Hier liest man von einer Bevölkerungsgruppe mit dem Namen „saxones“, die nach heutigen Begriffen im südlichen Schleswig Holstein gelebt haben müsste. Aber auch an dieser Stelle macht uns die jüngere Forschung einen Strich durch die Rechnung. Einige Historiker, und auch wir, sind davon überzeugt, dass es sich bei der Abschrift um einen Übertragungsfehler handelt. Näheres dazu in unserer Rubrik Irrtümer der Geschichte. Gemeint war vermutlich Aviones. Hierbei handelt es sich um eine germanische Gruppierung, die es im 1./2. Jh. gegeben hat, und die auch entsprechend bekannt gewesen sein dürfte.

In den Quellen des 3. Jahrhunderts tauchen die Begriffe „aviones“ noch „saxones“ nicht auf.

Zeitleiste in der Landesausstellung "SAXONES" im Landesmuseum Hannover, 2019

Der Name „saxones“ findet sich zweifelsfrei in den Quellen des 4./5. Jh. wieder. Dort ist er allerdings ein recht schillernder Begriff. Mal sind „saxones“ Feinde der Römer, mal Angehörige der römischen Armee. Vor allen Dingen ist er aber eine Sammelbezeichnung für Plünderer, die mit Schiffen auf der Nordsee unterwegs sind und die Küsten Galliens und Britanniens verwüsten und brandschatzten. Es hat die Berichterstatter nicht interessiert, woher genau diese Piraten gekommen waren oder welchen Ethnien sie angehörten. Wenn im 4./5. Jahrhundert von „saxones“ gesprochen wurde, war damit kein Volk, sondern eine hochmobile Gruppe mordgieriger Männer gemeint. Heute würden wir dazu „Gefährder“ sagen.

Die "Geburt" der Altsachsen

Scotelingo in der Landesausstellung "Saxones" im Landesmuseum Hannover, 2019, Foto: Michael Wallmüller

Im 5. Jahrhundert begann die kontinentale Expansion nach Britannien. Für das Jahr 441/442 ist durch einen unbekannten gallischen Geschichtsschreiber folgendes überliefert: "Britanniae...in dicionem Saxonum rediguntur". Dieses kann mit "Britannien gerät unter die Herrschaft von Saxones" wiedergegeben werden. (SPRINGER, 2004) Das Wort "saxones" ist hier eindeutig als eine Sammelbezeichnung und nicht als Namen eines bestimmten Volkes verwendet worden.

Was ist passiert?

In seiner Kirchengeschichte schreibt Beda Venerabilis (*673/674 † 735), dass ein römisch britischer Warlord mit Namen Vortigan die "..ut saxonum gentem de transmarinis partibus... " (Geschlecht der Sachsen aus Teilen jenseits des Meeres) aufgrund der politischen Verhältnisse um militärischen Beistand gebeten hatte

Unter der Jahreszahl 449 schrieb Beda "Aduenerant autem de tribus Germaniae populis fortioribus, id est Saxonibus, Anglis, Iutis." (Also dass sie von drei starken Völkern Germaniens kamen, nämlich von den Saxones, Angeln und Jüten). Beda führte weiter aus, dass die Saxones, die nach England gekommen waren aus dem Gebiet der "antiqui saxones" (Altsachsen) stammten.

Auch in der angelsächsischen Chronik ist für das Jahr 449 von Leuten "of Ealdsaxum, of Anglum, of lotum" die Rede. Diese Chronik stammt aus dem 9. Jahrhundert und geht mit Sicherheit auf Beda zurück. Der Umstand, dass das  Ursprungsland der Saxones nun als "antiqui saxones" bezeichnet wurde, begründet sich darauf, dass eine Differenzierung zwischen den "saxones" in England und den "saxones" auf dem Kontinent geschaffen werden musste.

Der Begriff "Altsachsen" war geboren. Die "richtigen" Saxones waren also bis zur ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts die "saxones", die in Britannien anzutreffen waren, während die "saxones" auf dem Festland mit einem unterscheidenden Beiwort bedacht wurden. Auch im Merowingerreich waren seit dem 6. Jahrhundert mit den Begriffen "saxones" und "saxonia" die Engländer und England gemeint.

Noch mehr "saxones"

Leichenzug des Kriegers aus dem zentralen Kammergrab Hemmingen- Hiddestorf. Illustration von Kelvin Wilson.

Der älteste bekannteste Text, aus dem sich erschließen lässt, dass mit „saxones“ außerdem Leute gemeint sein können, die irgendwo in einem mittel- bis norddeutschen Gebiet zwischen Rhein und Elbe leben, ist das Geschichtswerk, dass der fränkische Bischof Gregor von Tours in der 2. Hälfte des 6. Jh. verfasst hat. Im Jahr 531 hatten die fränkischen Könige Theuderich und Chlotar I. in Mitteldeutschland den thüringischen König angegriffen und später getötet. Gregor von Tours berichtet, dass sich 16 Jahre später „saxones“ gegen Chlothar I. erhoben hätten. Als dieser mit einem Heer gegen die Aufständischen zog, verwüstete er „totam thuringa“, also ganz Thüringen, denn Thüringer hätten den "saxones" geholfen, sich zu wehren. 

Rüsselbecher aus dem Gräberfeld bei Hemmingen - Hiddestorf

Gregor von Tours nennt in seinem Buch auch noch andere "saxones", aber die verortete er an die gallische Küste, an die Loire und an die Seine. Jüngere Schriftquellen zeigen, dass die Frankenkönige seit dieser Zeit über die "saxones" im Norden zwischen Rhein und Elbe die Oberherrschaft beansprucht haben. Sie belegen aber auch, dass das sehr lange mehr Wunsch als Wirklichkeit war. Erst Karl dem Großen gelang die vollumfängliche Eingliederung dieses Gebietes in das fränkische Reich.

Gegen Ende des 8. Jahrhunderts drehten sich die Verhältnisse wieder. Seit Karl dem Großen waren die Bewohner des Raumes im heutigen Norddeutschland zwischen Rhein und Elbe, wieder die "richtigen" Träger des Namens "saxones".
Nun also mussten die "saxones" auf der britischen Insel mit einem unterscheidenden Beiwort bezeichnet werden. Dieses Beiwort ist dem langobardischen Geschichtsschreiber Paulus Diaconus (*720/ 730 † 790/799) , der lange Zeit am Hofe Karls lebte, zu verdanken. In seiner Geschichte der Langobarden kommt der Ausdruck "angli saxones" vor. Dieses wird als "Angelsachsen" wiedergegeben. Die eigentliche Übersetzung müsste jedoch "englische Sachsen" lauten.

Der Beginn eines Mythos

Statue des Herzog Widukind im Widukind- Museum Enger

Im 19. Jahrhundert setzte sich die Überzeugung durch, dass es zwischen all den „saxones“ einen Abstammungszusammenhang gegeben haben muss. Wenn Karl der Große im 8. Jahrhundert einen über 30 Jahre langen Sachsenkrieg führt, die damalige Einwohnerschaft dieses großen Gebietes also denselben Namen trägt, wie ein kleines Völkchen, dass im 2. Jahrhundert im südlichen Schleswig Holstein gesessen haben soll, dann muss es ja in den Jahrhunderten dazwischen zu einer massiven Ausbreitung der Sachsen gekommen sein. Natürlich auch nach England hin. Wie sonst sollte der Begriff „saxones“ auch dorthin gelangt sein? Historiker waren sich darüber einig, dass alle Träger des Sachsennamens, die in der Überlieferung vor dem 6. Jh. auftauchen, zu einem alten germanischen Volksstamm gehören, die aus ihrer „Urheimat“ nördlich der Elbe ins Elbe-Weser Dreieck aufgebrochen sind und von dort begonnen haben, die heute niedersächsischen und westfälischen Gebiete als auch den Süden Englands in Besitz zu nehmen und die dort lebenden Völker zu unterwerfen. Alle alteingesessenen Gruppen seien in einen „sächsischen Stammesverband“ aufgegangen, der sich vom 6. bis 8. Jh. erfolgreich den Frankenkönigen widersetzte um schließlich – nach einer Episode der Unterwerfung im 9. Jh. - in deren Reich später selbst die Königsherrschaft zu übernehmen.

Auch der archäologischen Forschung ist es lange schwergefallen, sich von der Idee zu lösen, dass es sich bei den Sachsen um eine kontinuierlich bestehende Einheit handelt. Sie hat den Menschen, die vom 4. - 6. Jh. in heute niedersächsischen Gebieten lebten, den Namen „Altsachsen“ gegeben um sie von den Gegnern Karls des Großen zu unterscheiden, deren Hinterlassenschaften aus dem 7.- 9. Jh. gerne als „spätsächsisch“ bezeichnet werden.

Neue Erkenntnisse

Reichhaltige Grabausstattung des "Fürstengrabes" 1782 aus Krefeld - Gellep, 1.Hälfte 6. Jahrhundert

Mittlerweile steht fest, dass sich eine Expansion von Menschengruppen aus dem Elbe-Weser Dreieck in Richtung Mittelgebirge ab dem dritten Jahrhundert im archäologischen Befund ebenso wenig beweisen lässt, wie ein damit beginnender Verdrängungswettbewerb von Gruppen oder die Bildung eines Stammesverbandes.

Betrachtet man die Gräber, Siedlungen und Schatzfunde aus dem 1. bis 10. Jahrhundert, so scheint der Raum zwischen Nordsee und Harz heute eher ein Land der Regionen mit einer hochmobilen und europaweit vernetzten Elite zu sein, an deren Spitze einzelne Machthaber standen.

Einige von ihnen waren Teilhaber der maritimen Kultur um die Nordsee, andere hatten Anteil am Geschehen in der weiten binnenländischen Kontaktzone zu den Reichen der römischen Kaiser, der fränkischen und der thüringischen Könige.

Es zeigt sich deutlich, dass die Entwicklung im 1. und 2. Jahrhundert von der Haltung der Oberschicht zum Römischen Imperium beeinflusst wurde. Grabfunde belegen, dass es im dritten Jahrhundert große soziale Unterschiede gab. Wohlhabende Familien erscheinen als regelrecht romanisiert, aber auch als aktive Teilhaber eines weitgespannten germanischen Elitenetzwerkes.

Im 4. Jh. und in der ersten Hälfte des 5. Jh. wird das Wirken von Männern sichtbar, die als Söldner oder Föderaten der Römischen Armee zu Vermögen, Weltläufigkeit und Einfluss gekommen sind. Als Rom um 410 seine Provinz in England aufgab, entstand hier ein Machtvakuum, dass germanische Warlords vom Kontinent anlockte. Auch Anführer aus dem Elbe-Weser Dreieck waren darunter. Im Elbe-Weser Dreieck etablierte sich nun in der 1. Hälfte des 5. Jh. ein Herrschaftskomplex, an dessen Spitze ein König gestanden haben dürfte, dessen Einfluss bis zur mittleren Weser reichte.

In der zweiten Hälfte des 5. Jh. und der ersten Hälfte des 6. Jh. spiegeln archäologische Funde unser Gebiet als Kontakt- und Konfliktfeld zweier großer europäischer Machtzentren rechts des Rheins. Die Führungsschicht in der Nordhälfte des heutigen Niedersachsen teilte jetzt die Werte und Repräsentationsformen südskandinavischer Herrscher. Aber an der mittleren Weser und der unteren Elbe fassen wir auch Repräsentanten der Anhängerschaft von in Mitteldeutschland ansässigen Potentaten. Importwaren zeigen, dass man zugleich von Kontakten nach Gallien profitierte, wo sich jetzt das Reich der Merowingerkönige konsolidierte.

In der zweiten Hälfte des 6. und im 7. Jahrhundert sehen wir, dass sich in den Gebieten, die der Hellweg vom Rhein zur Elbe durchzieht, eine erkennbare frankisierte Elite etabliert hatte.

Literatur- und Quellenangabe:
Häßler, Hans-Jürgen - Sachsen und Franken in Westfalen. Zur Komplexität der ethnischen Deutung und Abgrenzung zweier frühmittelalterlicher Stämme, Studien zur Sachsenforschung 12, 1999
Ludowici, Babette - Saxones. Archäologie in Niedersachsen 2019, S. 160 - 163
SAXONES Begleitband zur Niedersächsischen Landesausstellung 2019, Neue Studien zur Sachsenforschung 7, 2019
Spitzbart, Günter (Hrsg.) - Beda der Ehrwürdige, Kirchengeschichte des englischen Volkes (Venerabilis Bedae, Historia Ecclesiastica gentis anglorum), Sonderausgabe 2007.
Springer, Matthias - Die Sachsen, 2004
Springer, Matthias - "Alte Sachsen und neue Sachsen?" in Neue Studien zur Sachsenforschung 2, 2011